Theater > Kleine Nachtmusik
Der Mann:
Ein einziges Mal in meinem Leben bin ich dem Pfad der Leidenschaft gefolgt, es war ein Irrweg, eine entsetzliche Katastrophe. Seitdem habe ich Magenbeschwerden. (...) Ich wollte alles, was mit der Liebe zusammenhängt, vergessen, verdrängen. Doch das ist unmöglich. Wenn man ein Buch aufschlägt und zu lesen beginnt, wovon handelt es? Von Liebe. Und schon spüre ich das Sodbrennen. Wenn man einen Film sieht, wovon handelt er? Von Liebe. Und meine Gastritis wird ärger. Ich sehe mir keine Filme mehr an und lese keine Bücher mehr, aber damit ist es nicht getan. Von jeder Plakatwand schaut mich eine halbnackte Frau mit lüsternem Blick an. Ich schaue weg und was sehe ich? Junge Paare, die sich direkt vor meinen Augen küssen, und meine Magenkrämpfe werden immer heftiger. Nur wenn ich Schnaps trinke, viel Schnaps, lassen die Schmerzen ein wenig nach. Sehen Sie diesen Rucksack? (Er holt einen Rucksack hervor, öffnet ihn und entnimmt ihm Kletterschuhe, Helm und Seil.) Ich wurde Bergsteiger. Ich kletterte auf die höchsten Gipfel, in der Hoffnung, daß mich die Liebe nicht so hoch hinauf verfolgen würde. Auch ein Irrtum. Die Seilbahnen wurden in immer höhere Regionen gebaut, der Bergtourismus verlagerte sich von der Baumgrenze über die Schneegrenze bis zu den eisigen Spitzen. Und mit ihm kamen die Liebenden, die, glücklich, das Gipfelkreuz erreicht zu haben, sich umarmten, selig zu Tal schauten, Liebesschwüre in das Gipfelbuch schrieben, um sich gleich darauf wieder zu umarmen. Ein entsetzlicher Anblick. Ich kündigte meine Mitgliedschaft beim Alpenverein und ging in den Prater. Hier ist es ab Mitternacht ein wenig besser. Am Abend kommen sie noch heiter und verliebt in den Prater, dann besaufen sie sich, beginnen zu grölen, schlagen ihrem Partner die Plastikblumen über den Kopf und torkeln haßerfüllt in unterschiedliche Richtungen davon. Das macht mich ruhiger.
Aus dem Stück „Kleine Nachtmusik“ von Silke Hassler
Aufführungsrechte: Thomas Sessler Verlag, Wien